Ärzte in freier Praxis – Mindestlöhne durch Gesundheitsreformen

Oder über die Vernichtung der freien Berufe in Deutschland
(
von Dr .med. H. H. vom Brocke)

Wissen Sie eigentlich, worauf Sie sich einlassen, wenn Sie in Deutschland eine psychiatrische bzw. nervenärztliche Praxis gründen oder übernehmen und bei der KV (Kassenärztliche Vereinigung) unterschreiben, dass Sie an der Versorgung der Gesetzlichen Kranken-Versicherungen (GKV) teilnehmen wollen? Sie unterschreiben, dass Sie bereit sind, paradoxe Aufträge zu übernehmen. Und Sie unterschreiben, dass Sie bereit sind, für 8,00 EURO Arztlohn pro Patient pro Quartal Behandlung durchzuführen, das sind 2,66 EURO im Monat. Sie glauben die Zahl nicht? Sie kommt sehr einfach zustande: Pro Quartal bekomme ich in meiner Praxis etwa 33.000,– EURO überwiesen für die Behandlung von 1000 Patienten. Davon gehen 25.000,– EURO für die Kosten der Praxis ab, verbleiben 8.000,– EURO. Bei 1000 Patienten entfallen auf jeden also 8,– EURO Arztlohn pro Quartal!

Das gilt für ein Budget von 877.276 Punkten. Die Fachgruppe hat einen Grenzwert von 750.276 Punkten. Meine Praxis liegt also noch 17 % über dem Fachgruppenquerschnitt, was das maximale Punktzahlvolumen angeht. Sie wurde vor 31 Jahren gegründet, versorgt durchschnittlich 1000 Kassenpatienten und 70 Privatpatienten. Dabei handelt es sich um eine nervenärztliche Praxis alten Stils, die überwiegend psychiatrisch ausgerichtet ist mit einem (selten genutzten) EEG als einzigem technischen Untersuchungsgerät. Neurologische Patienten werden mitversorgt. Für apparative Diagnostik wird an die dazu eingerichteten Neurologen weiter überwiesen.

Um Ihnen die unglaubliche Geringschätzung der nervenärztlichen Tätigkeit durch die KV’en zu verdeutlichen, vergleichen Sie bitte folgende Zahlen (gültig in der KV Nordrhein):

Kostenpauschale für einen Patienten im DMP Diabetes 160,– EURO, davon gehen an den Doktor 75,– EURO, gleich zurück an die Kasse (vom ärztlichen Honorar) 85,– EURO. Für die Behandlung eines Patienten in einer psychiatrischen Ambulanz zahlt die KV zwischen 150,– EURO und 240,-EURO. Der Hausarztverband mahnte an, dass in der zukünftigen Gebührenordnung eine Pauschale von mindestens 50,– EURO erforderlich sei. In der neuesten Ausgabe „Der niedergelassene Arzt 6/20.6.2007, 56. Jahrgang“ lese ich auf Seite 28, dass die zukünftige Hausarzt-Pauschale mit 75,– EURO höher sei als heute ,für Patienten ab dem 71sten Lebensjahr: 110,– EURO).Im Deutschen Ärzteblatt Jhg 104, Heft 39 vom 28.9.2007 heißt es auf S.A2617 (Zitat)“25 EURO pro Patient und Monat sind nicht zu viel und die Untergrenze unseres Angebotes“(Zitat Ende),d.h. der Hausärzteverband fordert 75,- EURO pro Patient pro Quartal als Untergrenze. Im Deutschen Ärzteblatt Jhg 104 vom 26.10.2007 ,Seite A2914 steht, dass die Hausärzte ab 2008 58.00 EURO als Fallpauschale erhalten sollen, im Jahr 2009 wohl 80,- EURO oder 85,- EURO. Wir Nervenärzte werden gegenwärtig mit einem Durchschnitt von 33,– EURO abgespeist.

Fairerweise muß gesagt werden, dass in der KV Nordrhein die Quote aller Fachärzte seit 2000 kontinuierlich gesunken ist. Den genauen Verlauf zeigt Ihnen die Liste über den Quotenverfall in der KV Nordrhein seit Quartal I/2000.

Quotenverfall in der KV Nordrhein

QuartalQuote HausärzteQuote Fachärzte ( Durchschnitt)
1/2000100,34% 96,67%
1/200196,81%92,74%
1/200296,12% 90,25%
1/200392,63%87,45%
1/200491,3785,29%
1/200585,31% 81,66%
2/200570,25%(nervenärztliches Budget)
3/200670,41%(nervenärztliches Budget)









 

Sie dürfen davon ausgehen, dass von den Zahlungen der KV im Jahr 2000 die Hälfte als Praxiskosten verwandt wurden, die andere Hälfte als ärztliches Einkommen. Wenn jetzt die Gesamtzahlung um 30% gesenkt wurde, die Praxiskosten aber in ursprünglicher Höhe geblieben sind, wurde das ärztliche Einkommen von 50% auf 20 % abgesenkt, also um 60% des bisherigen. Dies haben die Ärzte in Nordrhein-Westfalen einfach so hingenommen im Gegensatz zu den Telekom-Mitarbeitern, die sich schon über eine Einkommensverminderung von 6,5 % aufregen. Auf einer der Ärztedemonstrationen im Jahr 2006 las ich das Schild „Ärzte: Die Deppen der Nation“. Hat das Schild vielleicht recht?

Wie kommen die Quoten zustande? Ganz einfach durch den Vorwegabzug der außerbudgetären Leistungen wie Notdienstleistungen, Methadonvergabe, Richtlinien-Psychotherapie, Integrierte Versorgung und den Schnick-Schnack der DMP’s (Disease Management Program). Aber wenn eine Praxis durch das Ausfüllen der zahlreichen DMP-Bögen 75,- EURO pro Fall erwirtschaftet statt 33,- EURO, wer wird dann nicht Bögen ausfüllen? Und für die Krankenkassen sind die DMP’s beleibe kein Schnick-Schnack. Sie bekommen pro DMP-Fall mehrere 1000,- EURO aus dem Risikostrukturausgleich! Im Quartalsbrief der KV-Abrechnung II/2006 heißt es so schön (Zitat) „Praxen, die in diesem Bereich intensiv tätig waren, ,etwa bei Präventionsleistungen, Disease-Management-Programmen oder den Hausarztverträgen, konnten ihre Umsätze oft deutlich steigern“(Zitat Ende). Es steht da sorgfältig nicht, dass diese Umsatzsteigerung zulasten der Quote der budgetierten Leistungen erfolgte, also durch die Enteignung der bisherigen ärztlichen „Basistätigkeit“. Wenn die o.g. Vorweg-Ausgaben 30 % der Gesamteinnahmen der KV’en ausmachen, bleiben für die budgetierten Leistungen nur 70 %. Merke: Unser Fachgebiet hat keine solcher netten Ertragsteigerungsmöglichkeiten. Ausnahme: DMP Depression im Raum Aachen.

Zu all dem passt, dass das Deutsche Ärzteblatt vom 14. September 2001 veröffentlichte, dass ärztliche Psychotherapeuten für eine 50-minütige diagnostische Sitzung von den Ersatzkassen 30,– DM und von den Betriebskassen 9,50 DM bei der KV Südbaden erhielten. Niemand fand das merkwürdig, weder die KV noch die empfangenden Ärzte.

Natürlich hören Sie von den KV-Oberen oft, dass das Geld für die Niedergelassenen nicht reiche. Es müsse frisches Geld her. Denn die Zahl der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte hätte sich schließlich vergrößert, und die Untersuchungsmethoden seien besser, teurer und vielfältiger geworden. Daher der Punktwertverfall. Nirgends in den KV-Verlautbarungen lese ich, dass die Niedergelassenen im Jahre 1995 20 % vom „Gesamtkuchen“ der Kranken-kassen bekamen und jetzt nur noch 15,5 %. Wer hat eigentlich diese Minderung von 22,5 % des Gesamtbudgets seit 1995 zu verantworten? Die sogenannten „mächtigen Ärzteverbände“? Rechnen Sie doch zusammen: Seit 1995 minus 22,5 % Gesamtvolumen; seit 2000 minus 30 % Auszahlungsquote. Wie soll da das Geld noch reichen?

Und was ist mit der Bereitschaft gemeint, paradoxe Aufträge zu übernehmen? Ein paradoxer Auftrag liegt beispielsweise vor, wenn Sie verpflichtet werden, auf dem Hbf Köln stehend, nach Hamburg zu fahren (nach Norden), nach Basel zu fahren (nach Süden) und unter Androhung von hoher Strafe beides gleichzeitig! Wie stellt sich das in der psychiatrischen Praxis dar? Die Antwort betrifft die Handhabung

a) des Einkommensbudgets und

b) des Medikamentenbudgets.

a) Sie unterschreiben, dass Sie als Kassenarzt jeden pflichtversicherten Patienten behandeln, der Ihre Praxis betritt. Gleichzeitig sind Sie verpflichtet, das Budget der Gesamtpunktmenge einzuhalten. Wenn sich jetzt aber mehr Patienten anmelden, als Ihr Budget zulässt – und wenn viel mehr Patienten erscheinen, als Ihr Budget zulässt? Dann sind Sie natürlich verpflichtet, diese zu behandeln ohne Rücksicht auf Ihr Budget – also kostenlos. Von juristischer Seite weist der Richter am Bundesgerichtshof Dr. Steffen darauf hin, dass die Behandlungspflicht auch jenseits des Budgets natürlich gilt. Die Berufsordnung der Ärztekammern sagt aber, dass Sie (außer in begründeten Einzelfällen) nicht für umsonst behandeln dürfen. Diese Paradoxie betrifft natürlich alle Ärzte, nicht nur unsere Fachgruppe. Sie dürfen also Kassenpatienten nicht ablehnen wegen Überschreitung Ihres Budgets. Sie können natürlich Urlaub machen. Ich mache jetzt 16 Wochen Urlaub im Jahr, also in jedem Quartal vier Wochen, sei es Arbeitsurlaub oder Erholungsurlaub, auf alle Fälle im Anrufbeantworter als Budget-Urlaub benannt. Was ist das für ein System, in dem Sie derart tricksen müssen?

Ist Ihnen mal aufgefallen, dass einerseits die Ärztefunktionäre öffentlich beklagen, dass etwa ein Drittel der ambulanten Leistungen für umsonst, also für lau erbracht würden andererseits dieser Tatbestand gegen geltendes Recht unserer Berufsausübung verstößt?

b) Viel schlimmer gestaltet sich die Paradoxie jedoch im Bereich des Verordnungswesens. Ein Bespiel: Ein 46 Jahre alter Patient wurde wegen einer bipolaren Störung 4 ½ Monate stationär behandelt. In dieser Zeit haben die Kollegen eine mehrzügige Therapie erarbeitet, die endlich eine Stabilität des Patienten erwarten lässt. Die von der Klinik angesetzte Medikation erfordert im Quartal etwa 800,– EURO Das Budget erlaubt aber nur durchschnittlich 97,– EURO. Damit ist der Prüfungsausschuss der Ärzte und Krankenkassen berechtigt, die Überschreitung von 703,– EURO vom verschreibenden Niedergelassenen als Ersatz zu fordern – zu bezahlen von den 8,–EURO Arztlohn, die in den drei Monaten an dem Patienten verdient werden. Beschwichtiger der KV weisen darauf hin, dass es sich bei den Richtgrößen (97,66 EURO für Allgemeinversicherte und 126,96 EURO für Rentner) nur um Durchschnittswerte handle. Natürlich müsse der Einzelne verordnet bekommen, was er medizinisch brauche, so die Verträge der Kassenärztlichen Bundesvereinigung Band II vom 1.10.2002, Arzneimittel-Richtlinien 8.03, Absatz 8 (Zitat):“Der Versicherte hat im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung gegen den Vertragsarzt einen Anspruch auf diejenige Behandlung, welche auf Grund des Behandlungsverhältnisses nach den ärztlichen und rechtlichen Maßstäben erforderlich ist. Dazu gehört insbesondere die Beachtung der ärztlichen Kunst auf Grundlage des Standes der medizinischen Erkenntnisse.“ (Zitat Ende) Wundern Sie sich über dieses „gegen den Vertragsarzt“, also dass hier eine Gegnerschaft beschworen wird zwischen PatientIn und BehandlerIn? Aber das ist der offizielle Text der kassenärztlichen Verträge! Werden Sie diese Gegnerschaft aushalten ohne selbst verzweifelt zu werden und krank?

Dazu heißt es vom 1995 gerade ausgeschiedenen Vorsitzenden Richter des 6. Senats des Bundesgerichtshof, Arzthaftungssenat, Dr. Erich Steffen, These 9 und 10: (Zitat): „Für den Vertragsarzt verringert sich nicht am Quartalsende der zivilrechtliche Sorgfaltsmaßstab etwa deshalb, weil er unter den Druck der Wirtschaftlichkeitsprüfung gerät. Auch die Berufung auf seine Gutgläubigkeit hilft dem Arzt im Zivilrecht nur in Ausnahmefällen. Er kann neue Patienten ablehnen, darf aber die einmal übernommene Behandlung nicht mit dem Hinweis auf seine Probleme mit der Wirtschaftlichkeitsprüfung einschränken oder abbrechen oder etwa den Kassenpatienten auf die Möglichkeit der Selbstzahlung verweisen. Auch mit Hilfe der Patientenaufklärung kann sich der Arzt nicht aus seinem Dilemma befreien. Selbstbestimmungsaufklärung ist nicht dazu da, über die Einwilligung des Patienten den Qualitätsstandart für die konkrete Behandlung herabzusetzen“ (MedR 1995, 191) (Zitat Ende). Und was heißt durchschnittlich? Sie müssen in dem selben Quartal so viele „Verdünnungspatienten“ vorweisen, bei denen Sie nichts oder wenig an Medikamenten verordnen, bis durch deren nicht genutzte Budgets die Summe des „hochpreisigen“ Patienten erreicht ist. Jetzt sehen Sie mal zu, wie das gelingen mag in einer psychiatrischen Praxis wie der meinen, in der der Computer ausweist, dass 18 % aller Patienten ohne Rezept die Praxis verließen und 82 % mit. Seite Und in der keinerlei Konsiliartätigkeit oder Auftragsarbeit verrichtet wird, wie z. B. die Durchführung eines EMG zur Beurteilung des Carpaltunnelsyndroms und Rücküberweisung an den Hausarzt oder an den Chirurgen. Bei einem solchen Patienten fällt keine Medikamentenverschreibung an. Indem sich sein Medikamentenbudget zu dem der Patienten mit medikamentöser Behandlung hinzuaddiert, sind Nervenärzte mit neurologischer und psychiatrischer Tätigkeit grundsätzlich imstande, das Medikamentenbudget einzuhalten. In einer rein oder überwiegend psychiatrischen Praxis ist das völlig ausgeschlossen. Nehmen Sie die Behandlung eines Patienten mit zunächst therapieresistenter Depression, der endlich stabilisiert werden kann mit Jatrosom 2 Tabletten morgens und Trimipramin 50 mg zur Nacht. Dessen Behandlungskosten belaufen sich auf 220,–EURO im Quartal. Also brauchen Sie für jeden „Jatrosom-Patienten“ drei Verdünnungspatienten, wenn Sie bei diesen dreien die Medikamentenkosten um je 41,–EURO unterschreiten.

Die Überschreitung meiner Praxis liegt bei durchschnittlich 80 % im Quartal. Herr Kollege Dr. Ewald Proll, der ebenfalls eine psychiatrisch ausgerichtete Praxis betreibt, hat im Jahr 2005 sein Medikamentenbudget um 162,75 % überzogen. (Das ist weit jenseits der 25 % Überschreitung, von der ab nicht mehr die KV Ihnen beweisen muß, dass Sie unwirtschaftlich waren, sondern im Sinne der Beweislast-Umkehr müssen Sie beweisen, dass Sie wirtschaftlich verordnet haben). Die KV ist grundsätzlich berechtigt, von ihm jährlich 201.098,32 EURO als Ersatz für „zu viel verordnete Medikamente“ zu fordern – es sei denn, der Prüfungsausschuss erkennt auf Praxisbesonderheiten. 123.563,41 EURO war seine Budgetgrenze – für 324.661,73 EURO hat er verordnet. Sie, die geneigte Leserin, der geneigte Leser, erkennen, wie sehr Sie auf die Gnade des Prüfungsausschusses angewiesen sind, die Ihnen entweder zuteil wird oder nicht. Sie können schriftlich argumentieren und Sie können beten. Man darf gespannt sein, welches Schicksal Herr Kollege Proll nimmt? Vielleicht reicht die Gnade des Prüfungsausschusses für 75 % der Summe von 201.098.32 EURO? Dann würde er noch 25 % als Regress zahlen. Das wären 50.000,-EURO (zu zahlen von dem Arztlohn von vielleicht 40.000,-EURO im Jahr 2005). Sie finden den Text seines Widerspruches und sicherlich den weiteren Verlauf im Internet unter www.freie-aerzteinitiative-wuppertal.de und unter www.drproll.de.

Gegenüber dem Prüfungsausschuss haben Sie von vornherein verloren. Denn dieser interessiert sich einen Dreck dafür, ob Sie Ihre teuren Einzelfälle medizinisch plausibel begründen können. Er darf sich dafür gar nicht interessieren. Denn die Vereinbarungen, denen der Prüfungsausschuss unterliegt, fordern von Ihnen, dass Sie nachweisen, worin sich Ihre Verordnungstätigkeit von der der Fachgruppe unterscheidet. Sie müssen also die Zahlen, z.B. auch die Schwere der Erkrankungen im Durchschnitt der Fachgruppe, darlegen und dann Ihre Zahlen und die Differenz glaubhaft als wirtschaftlich begründen. Sind Sie sicher, dass Sie die Schwere der Erkrankungen der PatientInnen der Fachgruppe und die daraus folgenden Zahlen der Verordnungstätigkeit kennen oder kennen können? Ich bin diesen Zahlen in meinen 31 Jahren Praxistätigkeit noch nie begegnet, weiß auch nicht, wie ich daran kommen könnte. Gerade erfuhr ich von einem Kollegen, dass die KV Nordrhein die statistische Aufschlüsselung der Diagnosen auf ihrer Homepage veröffentlicht. Ob das etwas für die Regressabwehr nützt? Ich habe für das Quartal 2/1999 zum Erhalt der Gnade die Behandlungsnotwendigkeit der besonders teuren Patienten ausführlich begründet. Die Gnade der Anerkennung als Praxisbesonderheit wurde mir verwehrt und ein Medikamentenregress in Höhe von 11.800,– EURO aufgedrückt mit der Begründung: (Zitat): „Andere Praxisbesonderheiten als die in § 5 Abs. 3 der Anlage 2 zur Prüfvereinbarung genannten sind nur dann zu berücksichtigen, wenn der Arzt nachweist, dass er der Art und der Anzahl nach besondere von der Arztgruppentypik abweichende Erkrankungen behandelt hat und hierdurch notwendige Mehrkosten entstanden sind. Herr Dr. med. vom Brocke konnte diesen Nachweis in der geforderten dezidierten Form nicht erbringen“ (Zitat Ende). Der Bescheid war vom 24. September 2002. Diese 11.800,– EURO konnten jederzeit zur Zahlung angemahnt werden, bis mir mein Rechtsanwalt im November 2006 mitteilte, dass die Anträge zur Prüfung der Arzneiverordnungsweise für das Jahr 1999 von den Nordrheinischen Krankenkassen und der KV Nordrhein zurückgezogen worden seien. So lange – also vier Jahre lang – hing dieses „Damoklesschwert“ über meinem Kopf. Hat mir das Damoklesschwert Angst gemacht? Und ob! Mit dieser Angst soll ja unser Wohlverhalten erzwungen werden, gegen die Leitlinien unseres Fachgebietes und gegen unser Gewissen im Rahmen des verantwortungslos niedrigen Budgets zu verordnen. Und die Rechtsanwaltsauskunft kostete auch noch mal 696,– EURO.

Sie werden vielleicht Funktionären unserer Berufsverbände oder der KV’en begegnen, die behaupten, dass ernstliche Medikamentenregresse doch immer angedroht aber nie ausgeführt worden seien. Dagegen steht, dass der Beschwerdeausschuss der KV-Nordrhein mich am 13.09.2006 zu 5000,– EURO (fünf tausend) Regress verurteilte wegen verkehrt verordneten Sprechstundenbedarfs. Wie hieß es so treffend von einem der Ausschussmitglieder: „Unkenntnis schützt vor Strafe nicht.“ Die ersten drei Raten dieses Regresses sind mir in meinen Quartalsabrechnungen schon abzogen worden. Am 27.6.2007 gab die Freie Ärzteschaft bekannt, dass in Niedersachsen mehr als 800 Ärzte (wohl aller Fachrichtungen) Regressbescheide erhalten hätten über mehr als 100 Millionen EURO, die die KollegInnen aus ihrem Privatvermögen den Kassen erstatten sollen.(www.forum-freie-aerzteschaft.de)

Haben Sie schon einmal daran gedacht, im Fall einer Niederlassung auf alle Fälle Gütertrennung mit Ihrem Ehepartner zu vereinbaren, gemäß dem Grundsatz, dass die KV auch bei existenzbedrohenden Regressen von Ihnen nichts holen kann, wenn Sie nichts haben? Es ist völlig ausgeschlossen, dass Sie in einer psychiatrischen Praxis mit 97,66 EURO bei Allgemeinversicherten und mit 126,97 EURO bei Rentnern auskommen. Die Überschreitung des Kollegen Proll beweist das. Und meine eigene „geringe“ Überschreitung von „nur“ 80 % war allein deshalb möglich, weil ich bei manchen Diagnosen traurig, aber bewusst unterversorge. Von den 1000 PatientInnen meiner Praxis (pro Quartal) sind 400 PatientInnen 65 Jahre und älter.

Von denen haben 250 PatientInnen die Diagnose einer Demenz. Und nur 50 PatientInnen bekommen die teuren Antidementiva. „Bravo!“ werden die Kaufleute der KV rufen! Und Sie vielleicht: „Pfui!“

Noch ein paar Zahlen zum Vergleich: Die medikamentöse Therapie einer Depression oder einer bipolaren Störungen (beide ohne Sonderziffern) gestaltet sich pro Quartal täglich wie folgt:

Imipramin 150 mg
76,13 EURO
Citalopram 30 mg74,81 EURO
Trimipramin 100 mg28,93 EURO
Edronax 8 mg 146,72 EURO
Cymbalta 60 mg181,80 EURO
Trevilor 2 x 75 mg313,35 EURO
Jatrosom 20 mg 202,88 EURO
Jatrosom 40 mg405,76 EURO

Aber wehe, wenn Sie kombinieren müssen im Sinne des Stufenschemas bei Therapieresistenz (genannt Augmentation, also Vermehrung der Kosten)!

Ein trauriges Kapitel in Nordrhein: Die Schizophrenie ist wie der Diabetes melitus eine der teuersten Volkskrankheiten. Nur 20 % aller Schizophrenen üben einen versicherungspflichtigen Beruf aus. Bei 80 % muß nicht nur die medizinische Behandlung sondern auch der ganze Lebensunterhalt von der Versichertengemeinschaft getragen werden. Im Jahre 1999 bekamen in der BRD 11 % der Schizophrenen die atypischen Neuroleptica. In Holland waren es 22 %, in den USA 62 %. Wir rangierten damals an 21. Stelle in der Weltrangliste, gleich hinter Brasilien. Dann wurde die Sonderziffer 90915 eingeführt, die die Ausgaben für die Atypica automatisch als Praxisbesonderheit und damit der Gnade des Prüfungsausschusses zugehörig kennzeichneten. Seit 2004 wurde aber die Me-Too-Liste geschaffen, d.h. die Liste der Medikamente, deren viel zu hohen Preis kein eigentlicher Wirkvorteil gegenüberstünde. Und auf dieser Liste finden sich fast alle unserer wichtigen Atypica. Diese Liste wurde geschaffen von dem Nicht-Psychiater Prof. U. Schwabe, Direktor des Pharmakologischen Instituts der Universität Heidelberg ganz im Sinne der Eminence-based medicine. (DieMedizin von heute favorisiert die „Evidence-based-medicine“). Wie kommt aber Herr Schwabe dazu, fast alle der atypischen Neuroleptica als patentgeschützte Analogpräparate zu bezeichnen, die keinen therapeutischen Zusatznutzen haben? Sie, verehrte Leserin und verehrter Leser, mögen sich Ihre eigenen Gedanken machen. Meine Vermutung ist, dass er die Feststellung getroffen hat, weil er kein Psychiater ist und keine Erfahrungen im klinischen Gebrauch der Atypica hat. Natürlich wurde er von der KV-Nordrhein für die Erstellung dieser am Preis der Medikamente orientierten Liste bezahlt. Der „fehlende Zusatz-Nutzen“ wird übrigens von unserer Fachgesellschaft DGPPN ganz anders gesehen. Es wurde auf die CATIE-Studie verwiesen, in der die Abbruchrate der Medikation von Seiten der Patienten nach 18 Monaten als wesentliches Kriterium diente für die Beurteilung der unterschiedlichen Wirksamkeit von Typica und Atypica. Dabei konnten die bittersten Nebenwirkungen der Typica, nämlich die gehemmte Depression und die Spätdyskinesien in die Entscheidung der Patienten nicht mit eingehen. Denn diese treten erst zwei bis zwanzig Jahre nach Therapiebeginn auf. Zu deren Bewertung hätte es in der Psychiatrie erfahrene Ärzte gebraucht. Aber wen interessiert das schon? Die Kaufleute in der KV interessiert die Langzeitbewertung von Ärzten – (und nicht von Patienten im Zeitraum von 18 Monaten!) offensichtlich nicht. Dabei dauert diese Erkrankung lebenslang!

Bei der Untersuchung von 10000 stat. Patienten in 60 Kliniken wurde ermittelt, dass die Verordnung der Neuroleptica der ersten Generation zwischen 1994 und 2003 von 95 % auf 50 % sank, die Verordnung der Neuroleptica der 2. Generation (Atypica) von 20 % auf 72 % stieg.

(Prof. E. Ruether, private Mitteilung). Statt 72 % wurde die Quote für die Neuroleptica der 2. Generation von der KV Nordrhein auf 13,5 % (in Worten: dreizehn Komma fünf) der Praxisverordnungen budgetiert. Ich liege bei 24 %. Was für Regresszahlungen werden damit auf mich zukommen?

Und wie halte ich die langfristig auf mir lastende Angst aus? Und wie wollen Sie die unvermeidlichen Regressängste aushalten? Und wie werden Sie und Ihre Familie damit fertig, dass so Feiertage wie der 1.Mai, Christi Himmelfahrt etc. ausschließlich auf die Argumentationen zur Erzeugung der Gnade des Prüfungsausschusses verwandt werden?

Paradoxe Anforderungen erfüllen unter Einsatz des Privatvermögens, für das oben genannte „Honorar“: Ist das menschlich? Wollen Sie das?

Erstfassung vom 23.2.2007
Letzte Fassung vom 13.11.2007

Dr .med. Hans Heinrich vom Brocke
Arzt für Neurologie und Psychiatrie / Psychotherapie
e-mail: info@dr-vom-brocke.de

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