Psychiatrie und Rorschach

„…Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ereignete sich an der Psychiatrischen Universitätsklinik Burghölzli in Zürich eine eigentliche psychiatrische Revolution. Klinikdirektor Eugen Bleuler ermunterte seine Ärzte, mit dem neuen, psychoanalytischen Gedankengut des Wiener Neurologen Sigmund Freud zu experimentieren. Man lernte die bisher unverständliche Rede schizophrener Patienten zu entziffern, und Sekundararzt C. G. Jung entwickelte eine Testmethode, um sogenannte Komplexe zu identifizieren. Auch Rorschach liess sich nachhaltig anregen in diesem lebendigen, kreativen Forschungsklima…“ (Von Sabine Richebächer in NZZ)


Tintenklecksbilder spalten Wikipedianer

„Geheime“ Bilder des Rorschach-Tests veröffentlicht
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„…Die verwendeten Testbilder sind noch exakt dieselben, die Hermann Rorschach 1921 entwarf. Das erste der zehn Bilder ist allgemein bekannt. Die anderen neun Bilder waren zwar auch bisher schon nicht mehr so geheim , wie es sich die Anwender des Rorschach-Tests gewünscht hätten. Aber erst durch Wikipedia werden sie nun einer breiten Öffentlichkeit bekannt…“
„…Der Vorschlag, nur ein exemplarisches Bild online zu lassen und den Rest zu löschen, stieß bei den Administratoren der deutschen Wikipedia auf wenig Gegenliebe. Die Bilder seien schon seit den 1980er Jahren in Büchern und Zeitschriften veröffentlicht worden und seit zwei Jahren auch im Internet zu finden
(Anm.:,z.B. Villa María, Argentina 17/06/07), hieß es. Man müsse also davon ausgehen, dass Testpersonen sie längst kennen. Eine Löschung der Bilder komme daher keinesfalls in Frage…“

Eine große Aufregung.

Es sind Bilder veröffentlicht, die bislang von Psychologen für geheim gehalten wurden. Eine Illusion. Ein Anspruch auf exklusives Wissen oder nur Machtstreben einer bestimmten Berufsgruppe, die mit dem Rorschach-Test vor Gerichten und in anderen Gutachten und Diagnostik beinahe sektiererisch ihr Wissen zur Verfügung stellt. Bei der ganzen Aufregung der Psychologen und des Verlags wird vergessen, dass der Rorschach-Test an Bedeutung in der modernen Psychiatrie erheblich verloren hat, weil es eigentlich kein Test ist, sondern eher ein Übertragungsmittel, ein Transportmittel für Ideen.

Damit soll nicht gesagt werden, dass der Test nicht sein Reiz hätte. Dieser Reiz besteht darin, dass die Bildtafeln Rorschach-Test in  Händen eines erfahrenen Untersuchers durchaus geeignet sind, einen der Zugangswege mit dem Patienten zu finden. Wenn sich der Untersucher dessen bewußt ist, dass er mit den Bildern dem Patienten ein Angebot zu Assoziationen vorlegt. Dann kann der Austausch von Assoziation (Patient) und Metapher (Untersucher) beginnen.  Der Rorschach-Test ist von Herrn Hermann Rorschach aus der Begeisterung für die Tiefenpsychologie von Sigmund Freud und C. G. Jung einerseits und für die Kunst, vornehmlich Malen andererseits entwickelt worden.

Das revolutionäre für die Psychiatrie war das Interesse von seinem damaligen Spitalchef, Eugen Bleuler, die psychiatrische Anstalt für die neuen Ideen der Zugangswege zum Erleben und verstehen des Patienten zu öffnen. Er machte seinen Assistenten Mut, sich mit Patienten zu beschäftigen, mit denen zu reden und sah in der Tiefenpsychologie von Freud und Jung gute Möglichkeiten, sich in einem Austausch von Ideen (Assoziationen) des Patienten und den Ideen (Deutungen) des Therapeuten (Metaphern) die tiefer liegende Biographie des Patienten für beide Partner während des psychiatrischen Gesprächs zugänglich machen zu können.

Heute ist die Tiefenpsychologie aus der Psychiatrie nicht mehr wegzudenken. Sie ist ein fester Bestandteil der Ausbildung und der therapeutischen Arbeit. Auch die Befreiuung der Verhaltenstherapie von der früher herrschenden Formel „Reiz-kommt Reizantwort-Reiz“ (Ratten-Psychologie) zu Verhaltensanalyse berücksichtigt grundsätzliche tiefenpsychologische Aspekte und arbeitet unter Berücksichtigung des Unbewußten.

Bei den psychiatrischen Gesprächen kommt es zunächst darauf an, ob sich der angehende Psychiater für dieser Art Arbeit eignet, bereit ist, ohne wenn und aber zu kommunizieren, in der Lage ist zu lernen, die jeweils erforderliche Distanz einzuhalten, eine gute Ausbildung erfährt und Möglichkeiten hat und verständig ist, die spezielle Psychiatrie unter Bezugnahme der Tiefenpsychologie zu lernen. Das alleine zu erwerben braucht schon mindestenz 10 Jahre nach Abschluss des medizinischen Studiums (Erlangung der Approbation). Dann kommen nochmal 10 Jahre dazu, in denen der Psychiater lernt und lernt: in Gesprächen mit Patienten nicht in einen Machtkapmf zu kommen, wer nun Recht hat und wer nicht. Die Welt ist nun mal so gebaut, dass es immer mindestens zwei Wirklichkeiten gibt, während sich zwei Menschen treffen – z. B. beim psychiatrischen Gespräch.

Unter diesen Umständen ist es völlig irrelevant, ob die die Bildtafeln des Rorschach-Tests der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden oder nicht. Ein erfahrener und offen arbeitende Psychiater wird im Gespräch mitbekommen, wenn der Patient die Testbilder schon mal gesehen und irgendwelche Auswertungen dazu gelesen hat. Dann werden solche Erfahrungen in dem Gespräch eingebunden, die Assoziation auf der Ebene der Erfahrungen miteinander ausgestauscht. Am Ende kommt das Gleiche heraus, nämlich ein Bildnetzwerk, wie der Patient mit sich selbst umgeht. D.h. auch für gutachterliche Zwecke werden die Persönlichkeitszüge deutlich werden, wahrscheinlich sogar mehr, weil das Eigeninteresse des Patienten für den Test seiner Persönlichkeit erst recht kontrastreiche Konturen gibt. Darauf zu verzichten würde bedeuten, wieder zurück in die Verwahranstalt zurückgehen zu wollen und die Entscheidung über diagnostisches und biographisches Geschehen nur den Psychiatern zu überlassen – den heute therapeutisch und diagnostisch effektiven Weg des Dialogs zu verlassen.

Die Psychologen, die sich über die Veröffentlichung der Testbilder aufregen und meinen, die Veröffentlichung würde den ganzen Test in seiner Verwendbarkeit und Validität zerstören, bilden sicher eine Minderheit von der Elite, die meint, nur eine Seite hat Recht, weil sie weiß, weil sie die Bilder kennt und diese Bilder gezielt vorlegt und wieder wegnimmt. Der Psychologe beurteilt in so einer Begegnung alles, der Patient sagt einiges. Im Vergleich zu anderen psychologischen Tests ist die Reproduzierbarkeit der Ergebnisse mangelhaft und so kaum aussagefähiger, als eine fachliche Meinungsäußerung.

Wikipedia hat ohne es zu wissen den  von Eugen Bleuler gelegten roten Faden zu offenen Psychiatrie des Dialogs mit der Veröffentlichung der Test-Bilder aufgenommen und einen wichtigen Beitrag zu Psychoedukation geleistet. Den Rest werden wir in Gesprächen mit den Patienten gemeinsam entdecken.

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